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Deutsches Nationalepos als Opern-Stoff

Foto Erich Sidler und Laurence Cummings (v.l.)
Erich Sidler und Laurence Cummings (v.l.)

Am 10. Mai beginnen die Internationalen Händel-Festspiele Göttingen. Als diesjährige Opernproduktion wird „Arminio“ aufgeführt, in deren Mittelpunkt Arminius, der Held der Varus-Schlacht, steht. Die musikalische Leitung hat Laurence Cummings, Regie führt der Intendant des Deutschen Theaters Göttingen, Erich Sidler. Robin Kreide sprach mit beiden über das Werk und darüber, welche Herausfoderungen eine Opernproduktion für Dirigenten und Regisseure darstellt.


Herr Cummings, was gefällt Ihnen an der diesjährigen Händel-Oper besonders?


Cummings: Dass sie mitten im Leben beginnt. Bereits in der ersten Minute befinden wir uns im Konflikt zwischen Arminio und seiner Frau Thusnelda. Die ganze Oper dreht sich um einen familiären Konflikt. Da passt es gut, dass sie mit wunderbaren Duetten aufwarten kann.


Hört man, dass die Oper im Umfeld der legendären Varus-Schlacht spielt?


C.: Zum einen stimmt einen bereits die Ouvertüre auf die eher dunkle Atmosphäre der Geschichte ein. Zum anderen scheint durchaus etwas Militärisches bei einzelnen rhythmischen Elementen und Klangfarben auf.  


Beim Publikum fiel die Oper bei der Erstaufführung mehr oder weniger durch.


C.: Meiner Meinung nach zu Unrecht. Ich finde "Arminio" sehr gelungen. In den 1730er-Jahren war das Londoner Publikum allerdings sehr wankelmütig. Außerdem begann sich der Publikumsgeschmack in dieser Zeit bereits anderen musikalischen Formen zuzuwenden. Und natürlich war es damals wie heute: Es ist schwer vorherzusagen, welches neue Theaterstück, welche Oper oder welches Musical zum Renner wird und welches floppt. Damals wie heute hat das ja nicht immer nur etwas mit Qualität zu tun (schmunzelt).


Wo wir gerade beim Thema Qualität sind: In den letzten beiden Jahrzehnten hat die schauspielerische Qualität von Opernsängerinnen und Opernsängern in beeindruckender Weise zugenommen. Man kann eine Oper heute auch, was das Schauspielerische anbelangt, voll und ganz genießen. Ende der 1990er-Jahre war dies zum Teil noch anders. Da standen oft eher korpulente Sängerinnen oder Sänger recht statisch an der Rampe und schmetterten ihre Arien ins Publikum.


C.: Im Englischen gibt es hierfür den schönen Begriff „to park and bark“, also „parken und bellen“ (lacht).


Das trifft es ziemlich genau! Heute ist davon auf den großen Bühnen eigentlich nichts mehr zu sehen.


C.: Zu meiner großen Freude hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass schauspielerische und musikalische Qualität einander nicht widersprechen, sondern, im Gegenteil, zusammengehören. Bei einer Oper geht es immer darum, dem Text Wahrhaftigkeit zu verleihen. Dazu müssen die Sängerinnen und Sänger den Text in Verbindung mit der Musik und der Figur bringen. Und das geht nur, wenn auch das Schauspielerische stimmt.


Herr Sidler, wie stellt sich diese Entwicklung für Sie als Theaterregisseur dar?


Sidler: Gerade in Deutschland wurde sie in den letzten Jahrzehnten auch durch Wechselwirkungen zwischen Theater- und Opernbühnen beeinflusst. Das ist hierzulande ja naheliegend, da beide Sparten oft am selben Haus angesiedelt sind und ein Austausch so erleichtert wird.


Wie war das im 18. Jahrhundert? Von den Kritikern zur Zeit Händels werden vor allem die Stimmen bei einer Opernaufführung gelobt.


C.: Damals gab es die Hand- und Fingergesten der Sängerinnen und Sänger, mit denen Emotionen ausgedrückt wurden. Das Publikum verstand diese. Auch damals gab es den Anspruch, auf der Opernbühne möglichst wahrhaftig zu agieren. Es sah nur anders aus, und es wurde anders genannt. Man sprach davon, dass die Sängerinnen und Sänger die Seele des Publikums bewegen sollten.


Das ist ein sehr hoher Anspruch.  


C.: Zweifellos. Wenn man es aus Sicht der Sängerinnen und Sänger betrachtet, versteht man aber, warum ein solches Herangehen oder ein solcher Anspruch richtig ist: Die Sängerinnen und Sänger müssen sich auf den Moment, also auf die Kombination aus Musik und Text komplett einlassen. Denn ein Moment kann auf einer Opernbühne recht lang dauern. Wenn ein Schauspieler in einem Theaterstück eine Zeile spricht, um ein Gefühl auszudrücken, so dauert dies einige Sekunden. Bei einer Opernarie, in der die Zeile mehrmals wiederholt wird, kann ein Gedanke oder ein Gefühl durchaus fünf bis zehn Minuten dauern (lacht). Die Spannung für das Publikum so lange halten zu können, ist für Sängerinnen und Sänger eine echte Herausforderung. Dies geht nur, wenn man dem Gesang die notwendige Tiefe verleiht.


Herr Sidler, worin unterscheidet sich für Sie eine Operninszenierung von der Inszenierung eines Theaterstücks?


S.: Bei einem Theaterstück habe ich als Regisseur meist die Freiheit, mir zu überlegen, was ich mit der Inszenierung erzählen will, wie ich es und mit welchem Rhythmus ich es erzählen will. Außerdem tausche ich mich während der Proben mit den Schauspielerinnen und Schauspielern darüber aus, wie sie ihre Rolle sehen und wie sie diese schauspielerisch umsetzen könnten. Der Prozess kann sehr offen sein. Bei der Oper gibt die Musik den Rhythmus der Aufführung vor. Außerdem können Sie bei einem Theaterstück kürzen oder etwas hinzufügen. Das geht bei einer Oper nicht. Als Regisseur muss ich mir daher von Anfang der Proben an darüber klar sein, was ich erzählen will. Auch den Sängerinnen und Sängern ist durch die Musik sehr viel vorgegeben. Eine meiner Aufgaben ist es, ihnen ein klares Bild davon zu zeichnen, in welcher Situation sich ihre Figur befindet, und ihnen dabei zu helfen, eine Haltung zum Text zu finden. Außerdem geht es darum, mit ihnen die Beziehungen zu den anderen Figuren zu erarbeiten. Eine Arie wird zwar solo gesungen, die Figur steht in diesem Moment aber trotzdem in Beziehung zu anderen.  


Sie bereiten also schon vorher am Schreibtisch zusammen mit ihrem dramaturgischen Team sehr viel vor?


S.: Ja, das muss man auch, denn eine Oper auf die Bühne zu bringen, erfordert eine sehr große Maschinerie. Spontane Änderungen, wie sie bei einem Theaterstück in gewissem Umfang während der Proben noch möglich sind, gehen bei einer Operninszenierung nicht, weil ein viel zu großer Apparat an der Produktion hängt. Sie müssen also vorher ziemlich genau wissen, was sie wollen.


Wie wird Ihre Zusammenarbeit mit Laurence Cummings aussehen?


S.: Ich selbst kann ja nur ausformulieren, was ich vom Text her in einer Szene oder einer Figur sehe oder erahne. Laurence liest den Charakter aus der Partitur und erweckt die Musik zum Leben. Unsere beiden Sichtweisen können sich gegenseitig verstärken oder auch produktive Reibungsflächen erzeugen. Laurence ist ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Händel-Interpretation und damit ein sehr starker Partner bei der Inszenierung. Ich freue mich sehr auf den kreativen Austausch.


Die Geschichte des Arminius ist ein deutscher Nationalmythos. Wie viel davon steckt in der Oper?


S.: Sie ist kein Abbild der Geschehnisse im Teutoburger Wald. Diese kommen nur am Rande vor. Wie Laurence bereits gesagt hat, wird stattdessen eine Geschichte, die in der Familie von Arminio spielt, erzählt. Aber selbstverständlich ist es für mich spannend, auf einer deutschen Bühne mit einer Figur wie Arminio zu arbeiten. Arminio ist in der Oper mit der eigenen Selbstüberhöhung beschäftigt. Er arbeitet gewissermaßen bereits am eigenen Mythos. Dabei  stilisiert er sich selbst und verliert dadurch seine Glaubwürdigkeit. Er verhält sich nicht wie ein Held, sondern redet immer nur von Heldenhaftigkeit.


Was ist mit den Römern?


S.: Die kommen natürlich auch vor. Der alte Feldherr Varus changiert zwischen der Rolle des tragischen Helden und der des Schwächlings. Das macht ihn für mich als Figur hoch spannend.


Während sich mit der historischen Figur des Arminius Germanien von Rom endgültig losgesagt hat, verabschiedet sich Großbritannien gerade aus der EU. Von Ihnen, Herr Cummings, daher vielleicht noch ein Wort zum Brexit?


C.: Ich bedauere diesen Prozess sehr, genauso wie rund die Hälfte meiner Landsleute. An Händel sieht man gut, wie unnatürlich die Rückbesinnung auf nationale Grenzen ist. Er ist der Inbegriff des Europäers und vereint in seinem Werk auf geniale Weise Einflüsse aus Deutschland, Italien, Frankreich und England. Sie brauchen sich ja nur "Arminio" anzuschauen: Hier hat er einen urdeutschen Stoff für das englische Publikum in italienischer Sprache vertont.

Foto: Robin Kreide

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