„Vernünftig sein heißt mit Unsicherheit zu leben“

Die Philosophin Prof. Dr. Catrin Misselhorn ist stellvertretende Direktorin des Philosophischen Seminars der Universität Göttingen. Bei einer virtuellen Tasse Kaffee sprachen Claudia Klaft und Robin Kreide mit ihr darüber, welche Antworten die Philosophie in der aktuellen Krise bieten kann.
Frau Prof. Misselhorn, mit welchem Blick schauen Sie als Philosophin auf die Coronavirus-Pandemie?
Mit der Corona-Pandemie fällt etwas bislang gänzlich Unbekanntes in unser Leben ein und wir sind gefordert, unsere Gewohnheiten und Lebensform für einen nicht absehbaren Zeitraum grundlegend zu verändern. Das betrifft etwa unsere tägliche Praxis der Wissensbeschaffung. So berichtet ein Arzt, dass er zuvor beim Vorliegen von bestimmten Symptomen einfach Bücher oder den Computer befragen konnte. Dies war insbesondere in der Anfangsphase bei Covid-19 nicht möglich. Mit der Pandemie stellen sich auch ethische Fragen: Wie soll mit den knappen medizinischen Ressourcen umgegangen werden? Wie ist Schutz von Leben und Gesundheit abzuwägen mit anderen Gütern, etwa dem Recht auf Bildung, dem ökonomischen Wohlstand oder der Ausübung bestimmter Freiheitsrechte? Welche Konsequenzen sollten wir aus der Pandemie für das gesellschaftliche Zusammenleben ziehen, und zwar auch dann, wenn diese einst überwunden sein wird?
Wie sich die Coronavirus-Pandemie entwickeln wird, weiß niemand. Wir müssen wohl auch in den nächsten Monaten mit großer Unsicherheit leben. Weshalb ist Unsicherheit aus philosophischer Sicht ein Problem für uns?
Der Begriff „Unsicherheit“ hat mehrere Bedeutungen, die hier zusammenkommen. Zum einen bezeichnet er eine konkrete Gefahr oder eine Bedrohung. Der Begriff kann sich aber auch darauf beziehen, dass man etwas nicht genau weiß. Das kann entweder an einem Mangel an Informationen liegen oder daran, dass der Zufall mit im Spiel ist. Menschen vermeiden im Allgemeinen nicht nur Gefahren, sondern auch andere Arten der Unsicherheit, weil diese mit einem Mangel an Kontrolle und Vorhersagbarkeit verbunden sind. Diese Faktoren können zu einer Einschränkung der Handlungsfähigkeit führen. Im schlimmsten Fall kann es zu einer Bedrohung von Leib und Leben kommen.
Was kann uns helfen, besser mit Unsicherheit umzugehen?
Die Frage hat eine wissenschaftliche und eine psychologische Seite. Wissenschaftlich gehört das Problem der Unsicherheit zu den zentralen Themen der Entscheidungstheorie, und es gibt eine Reihe wissenschaftlich fundierter Prinzipien dafür, wie man unter Unsicherheit rational entscheiden kann.
Psychologisch gesehen kann der Wunsch nach Sicherheit dazu führen, dass man die Komplexität von Situationen ausblendet, sie unzulässig vereinfacht und vermeintlichen Gewissheiten folgt, die Eindeutigkeit versprechen. Diese Reaktionen sind psychologisch durchaus verständlich, aber es ist wichtig, diesen Impulsen nicht einfach zu folgen, sondern sie kritisch zu reflektieren. Denn selbstbestimmtes Handeln kann letztlich nur in Vernunft gründen, und vernünftig sein heißt in diesem Fall, rational und bewusst mit der Unsicherheit zu leben. Das schließt natürlich nicht aus, dass man alle wissenschaftlich verfügbaren Mittel einsetzt, um mehr Informationen zu gewinnen und dadurch die Unsicherheit zu reduzieren.
Die Wissenschaft, genauer die virologische Forschung, wird in Bezug auf Corona aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert. Den einen sind die Aussagen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht eindeutig genug, den anderen sind sie wiederum zu eindeutig. Wie beobachten Sie als Philosophin diese Diskussion?
Es gibt zwei Dimensionen, in denen Eindeutigkeit beziehungsweise Uneindeutigkeit auftreten kann. Bei der einen geht es um die eingangs thematisierte Situation, dass insbesondere zu Beginn der Pandemie noch sehr wenig zuverlässige Informationen zu Covid-19
vorlagen. Die andere betrifft die Frage, zu welchen Entscheidungen diese Informationen führen sollten. Im ersten Fall geht es um die Fakten, im zweiten um die Bewertung der Fakten und die politischen Entscheidungen, die daraus resultieren.
Zwischen diesen beiden Dimensionen besteht ein Zusammenhang, aber sie sind nicht immer unmittelbar eins zu eins miteinander verknüpft. Das sieht man daran, dass sie unabhängig voneinander variieren können. So ist es möglich, trotz mangelnder Information zu einer eindeutigen Bewertung zu kommen, etwa, dass man sich – solange keine weiteren Informationen vorliegen – besser nicht mit der Krankheit infizieren sollte. Umgekehrt führt auch das Vorliegen vollständiger Informationen nicht zwangsläufig zu einer eindeutigen Bewertung oder politischen Entscheidung.
Welcher Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und Aussagen ist aus Ihrer Sicht der richtige?
Für Laien ist es vernünftig, sich hinsichtlich der Fakten am Mehrheitsurteil der Expertinnen und Experten zu orientieren, die im entsprechenden Bereich wissenschaftlich aktiv sind und deren Erkenntnisse anhand der in der Wissenschaft akzeptierten Standards und Prozeduren gewonnen wurden.
Viele Menschen sind frustriert von der großen Dynamik bei der Gewinnung von Erkenntnissen in der Coronakrise, die dazu geführt hat, dass Expertinnen und Experten ihre Einschätzung der Faktenlage aufgrund neuer Daten teilweise schnell geändert haben. Es wäre jedoch ein Fehler, sich deshalb von den Wissenschaften abzuwenden.
Wir müssen einen erwachsenen Umgang mit ihnen finden. Dieser besteht nicht etwa darin, es aus dem Bauch heraus besser zu wissen. Sondern es geht darum, zu akzeptieren, dass Wissenschaft nicht unfehlbar ist und sich dynamisch entwickelt. Trotzdem ist es unabdingbar, vom Stand der Wissenschaften auszugehen, wenn es darum geht, rationale Entscheidungen zu treffen.
In den letzten Jahren haben Sie sich viel mit den philosophischen und ethischen Problemen der künstlichen Intelligenz beschäftigt. Es ging Ihnen dabei unter anderem um die Frage, wie Entscheidungen durch künstliche Intelligenz, wie sie in Zukunft etwa in sich selbst steuernden Autos verbaut sein könnte, in kritischen Situationen, zum Beispiel bei einer drohenden Kollision, ethisch möglichst richtig getroffen werden können. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Grundsätzlich warne ich davor, autonomen Fahrzeugen die Entscheidung über Tod und Leben von Menschen zu überlassen. Wir sollten uns nicht von Hochglanzvisionen und ökonomischen Interessen treiben lassen. Zunächst gilt es, auf der Faktenebene zu untersuchen, inwieweit sich nicht bereits durch das assistierte Fahren, also durch die Unterstützung des menschlichen Fahrers durch intelligente technische Systeme, ein deutlicher Zuwachs an Sicherheit erreichen lässt. Diesen sollten wir so weit wie möglich ausschöpfen. Auf der Bewertungsebene wäre dies aus meiner Sicht die moralisch deutlich unproblematischere Option.
Auch die politischen Entscheidungen in Zeiten der Corona-Pandemie sind mit einem schwierigen Abwägungsprozess verbunden. So gilt es auf der einen Seite durch geeignete Maßnahmen unsere Gesundheit zu schützen, auf der anderen Seite müssen wir aber verhindern, dass unser ökonomisches System durch zu rigide Einschränkungen des öffentlichen Lebens irreparablen Schaden nimmt. Wie würden Sie aus philosophischer Sicht an solch schwierige Entscheidungen herangehen?
Bei einer solchen Bewertung muss man sich innerhalb des von der Verfassung vorgegebenen Rahmens bewegen. Verfassungskonsens in Deutschland ist, dass das Leben und die Gesundheit von Menschen nicht einfach mit ökonomischen Vorteilen aufgerechnet werden dürfen. Letztlich können deshalb nur die Risiken für Leben und Gesundheit in verschiedenen Szenarien gegeneinander abgewogen werden. Gleichwohl darf man dabei nicht nur auf Zahlen schauen, sondern muss weitere Aspekte berücksichtigen. So gilt es, besonders gefährdete Personengruppen zu schützen. Es wäre auch falsch, den Blick auf eine rein ökonomische Perspektive zu verengen, da es um eine Reihe wesentlicher Grundrechte geht.
Vor diesem Hintergrund ist immer auch zu berücksichtigen, wie schwerwiegend die Einschränkungen sind, die mit verschiedenen Maßnahmen verbunden sind. Wie diese Abwägungen im Einzelnen ausfallen, kann ich als Philosophin nicht vorwegnehmen. Sie sind in einer Demokratie immer das Ergebnis eines politischen Prozesses.
Auch eine Philosophin, die sich tagtäglich wissenschaftlich mit existenziellen Fragen unseres Daseins beschäftigt, hat die Coronavirus-Pandemie sicher genau wie uns alle überrascht. Hat sich Ihr Standpunkt gegenüber bestimmten philosophischen Themen, Theorien oder Erkenntnissen dadurch verändert?
Meine Perspektive hat sich nicht so sehr im Hinblick auf einzelne philosophische Probleme, Theorien oder Erkenntnisse verändert. Aber die Corona-Krise hat einmal mehr spürbar gemacht, dass unsere Lebensform keineswegs selbstverständlich ist. Das zeigen ja auch andere Probleme wie die Klima-Krise. Angesichts dessen ist es aus meiner Sicht an der Philosophie, kreativer über grundlegende Alternativen zu unserer Lebensform nachzudenken.
Philosphieprofessorin Dr. Catrin Misselhorn
Foto Teaser und Artikel: CC (2), privat